Startseite > Glossar „Queerfeindliche Begriffe erklärt“
Um die Debatte über Anliegen queerer Menschen sachlich führen zu können, werden im folgenden Glossar queerfeindliche Narrative kritisch betrachtet. Unter Heranziehung von wissenschaftlichen Quellen werden Behauptungen und Aussagen behandelt, die wiederkehrend im öffentlichen Diskurs rund um queeres Leben auftauchen und häufig auf Falschinformationen oder ideologisch verklärten Annahmen beruhen.
Queerfeindliche Akteur*innen behaupten immer wieder, dass die zunehmende Akzeptanz queerer Lebensweisen Familien bedrohe oder gar dazu führe, dass es immer weniger Familien gäbe. Häufig wird Homosexuellen, trans* und inter* Personen beispielsweise abgesprochen selbst Teil einer Familie (mit Kindern) zu sein bzw. eine solche gründen zu können. Queerness und Elternschaft gelten dort als unvereinbar. Manchmal wird behauptet, dass sich Kinder und Jugendliche, die sich selbst als queer outen, von ihren Herkunftsfamilien entfremden würden, also der Familienfriede durch deren Queer-Sein nachhaltig gestört werde.
Was bei diesen beiden Argumenten schon mitschwingt, sagen andere queerfeindliche Akteur*innen geradeheraus: Nicht Familien an sich gelten als bedroht, sondern ein ganz bestimmtes Konzept von Familie, nämlich das der bürgerlichen (Klein-)Familie. Demnach gelten nur Konstellationen, in denen Vater und Mutter, vorzugsweise verheiratet und mit geschlechtertypischer Rollenverteilung (siehe Biologische Zweigeschlechtlichkeit), ein oder mehrere Kinder großziehen, als funktionierende Familien, in denen ein ‚gesundes‘ Aufwachsen möglich sei. Diese Vorstellung ist aber zutiefst ausschließend, denn Kinder leben in vielfältigen Familienmodellen. Es gibt homosexuelle Eltern, Patchworkfamilien, alleinerziehende Eltern, Pflege- und Adoptivfamilien, Familien in denen ein oder mehrere Mitglieder trans*/inter* sind und auch Wahlfamilien, die Sorgeverantwortung übernehmen. Studien belegen dabei regelmäßig, dass nicht das gelebte Familienmodell über ein gutes Aufwachsen von Kindern entscheidet, sondern wie gut die kindlichen Bedürfnisse in diesen erfüllt werden. Der Fokus von queerfeindlichen Akteur*innen, die von der ‚Auflösung der Familie‘ sprechen, liegt aber nicht auf dem Wohlergehen von Kindern, sondern darauf, das eigene Lebensmodell als einzig Gültiges zu setzen. Aus dieser Perspektive erscheinen andere Familienkonstellationen tatsächlich als bedrohend, denn durch deren zunehmende Sichtbarkeit werden diese auch gesamtgesellschaftlich denkbarer. Im Ergebnis fühlen sich möglicherweise weniger Menschen gezwungen entgegen den eigenen Wünschen in einer bürgerlichen Familie zu leben, sondern entscheiden sich für andere Wege.
Weiterführende Informationen
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2021): Eltern sein in Deutschland – Neunter Familienbericht der Bundesregierung. Online verfügbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/ministerium/berichte-der-bundesregierung/neunter-familienbericht. Zuletzt geprüft am 24.04.2024.
LSVD+ Verein queere Vielfalt (o. D.): Gleichgeschlechtliche Eltern – Studien über Kinder in Regenbogenfamilien. Online verfügbar unter: https://www.lsvd.de/de/ct/817-Gleichgeschlechtliche-Eltern-Studien-ueber-Kinder-in-Regenbogenfamilien. Zuletzt geprüft am 24.04.2024.
Notz, Gisela (2015): Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes. Stuttgart: Schmetterling Verlag.
Zweigeschlechtlichkeit (Frau/Mann) wird von antiqueeren Akteur*innen oftmals als feststehendes Naturgesetz behandelt, um inter* Menschen und nichtbinäre Geschlechtsidentitäten als ‚unnatürlich‘ darzustellen. Manchmal mischt sich dies auch mit religiösen Argumentationen, nach welchen Gott ausschließlich Mann und Frau geschaffen habe. Biologische Zweigeschlechtlichkeit bezeichnet diese vermeintlich natürliche Zuordnung von Menschen in zwei Geschlechter (Frau/ Mann). Dabei sind in den Naturwissenschaften schon lange mehr als zwei Ausprägungen des Geschlechts bekannt, denn dieses setzt sich aus diversen Faktoren zusammen: z. B. Sexual-/Fortpflanzungs-Organe, Chromosomen, Hormone, primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale. Aktuell werden bestimmte Merkmale, wie das Vorhandensein von XX-Chromosomen, das Hormon Östrogen, Eierstöcke und Vulva als zum weiblichen Geschlecht gehörend eingeordnet, während XY-Chromosomen, Testosteron, Hoden und Penis als männlich gelten. So eindeutig wie behauptet ist diese Einteilung nicht. So hat beispielsweise jeder Mensch sowohl Testosteron als auch Östrogen im Körper. Außerdem gibt es auch Menschen, bei denen sich die Chromosomensätze nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen lassen. Diese Menschen sind intergeschlechtlich. Nach der Geburt wurde ihnen bisher oftmals ein Geschlecht – männlich oder weiblich – operativ (zwangs-)zugeordnet, um sie an gesellschaftliche Kategorien anzupassen. Seit dem 1.1.2019 hat der deutsche Staat den dritten Geschlechtseintrag im Personenstandsrecht geregelt, sodass sich inter* Menschen nun nicht mehr einem Geschlecht zuordnen müssen, sondern auch die Option ‚divers‘ für sich wählen können. Damit hat der Staat die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern rechtlich anerkannt. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz, welches seit dem 12.04.24 ermöglicht, dass z. B. inter*, trans* und nichtbinäre Personen beim Standesamt ihren Namen einfacher ändern können, wird das ‚Transsexuellengesetz’ von 1980 abgelöst, welches vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt wurde, da es entwürdigend sei.
Die biologische Zuordnung zu zwei Geschlechtern hat dabei auch konkrete soziale, rechtliche und identitätsstiftende Konsequenzen. Mit Bezug auf die angeblichen natürlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, werden unterschiedliche gesellschaftliche Rollen und Arbeitsteilungen abgeleitet, wie z. B., dass Frauen freiwillig mehr unentgeltliche Erziehungs- und Hausarbeit übernehmen ‚wollen‘, während Männer Arbeitsverhältnisse mit hohem Einkommen anstreben würden. So erscheint der nach wie vor hohe Gender-Pay-Gap, also der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern, als natürliche Konsequenz der Biologie. Wenn Geschlecht naturalisiert, also als Naturgesetz angesehen wird statt als sozial konstruiert, wird die Kritik an solchen Verhältnissen, sowie an daraus entstehender sozialer Ungleichheit verunmöglicht.
Weiterführende Informationen
Antidiskriminierungsstelle des Bundes: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/geschlecht-und-geschlechtsidentitaet/dritte-option/dritte-option-node.html
Pfeiffer, Zara Jakob/ Debus, Katharina (2021): Das Wollknäuel besprechbar machen. Suchbewegungen, Spannungsfelder und Ambivalenzen im Umgang mit (Cis)Sexismus, Feminismus und Transfeindlichkeit. im Rahmen des Podcasts beyond-binary.net. 1.5.2021. Anhören unter: http://beyond-binary.net.
Debus, Katharina (2023, online first): Diskriminierungsreflektierte Sexualpädagogik – Fokus geschlechtliche, sexuelle und amouröse Vielfalt. In: Scherr, Albert/El-Mafaalani, Aladin/Reinhardt, Anna Cornelia (Hrsg.): Handbuch Diskriminierung. Wiesbaden: Springer VS. Online unter: https://link.springer.com/referenceworkentry/10.1007/978-3-658-11119-9_45-2.
Die Praxis, dass Menschen bei der Geburt in die Kategorien weiblich und männlich eingeordnet werden und diese Einordnung anschließend lebenslange Gültigkeit haben soll, ist menschengemacht. Es wird also davon ausgegangen, dass ein Mensch, der bei der Geburt den Geschlechtseintrag weiblich erhielt (Klassifikation), sich auch als Mädchen/Frau fühlt (Identität) und wie ein Mädchen/eine Frau auftritt (Rolle) (siehe Biologische Zweigeschlechtlichkeit). So eindeutig ist es in der Realität jedoch nicht. Statt binär von einem ‚entweder‘ und einem ‚oder‘ auszugehen, sollte jeder dieser drei Bereiche als Spektrum betrachtet werden. So gilt ein Bart beispielsweise als Ausdruck einer männlichen Geschlechterrolle, obwohl es auch viele weiblich klassifizierte Person mit Haaren im Gesicht also mit Bartwuchs gibt.
Manche Menschen identifizieren sich nicht mit dem bei Geburt zugeordneten Geschlecht (Klassifikation). Hierfür hat sich der Begriff trans* oder transgeschlechtlich etabliert. So kann zum Beispiel einem Kind das weibliche Geschlecht bei der Geburt zugeordnet worden sein, die Person fühlt sich aber nicht als weiblich, sondern als Mann. Die Transition, also der Prozess der geschlechtsangleichenden Veränderungen des Körpers – Anpassung des Aussehens und des Verhaltens, Einnahme von Hormonen, manchmal geschlechtsangleichende Operationen – kann ein sehr langer und intensiver Prozess sein. Hierfür müssen sich trans*Personen einem oftmals demütigenden Prozess unterziehen. Deshalb entscheiden sich nicht alle für diesen Weg, was sie jedoch weniger trans*/geschlechtlich macht.
Die Behauptung bei trans* Personen handle es sich um ‚Frauen in Männerkörpern‘ oder ‚Männer in Frauenkörpern‘ leugnet Transgeschlechtlichkeit. Statt anzuerkennen, dass es trans* Frauen und trans* Männer gibt, wird diesen unterstellt, sich lediglich als ein anderes Geschlecht auszugeben, sich also nur zu verkleiden. Dieser Standpunkt leugnet die Körperwahrnehmung und gefühlte Identität von trans* Personen.
Weiterführende Informationen
Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e.V. (o. D.): Begriffserklärungen. Online verfügbar unter: https://www.bug-ev.org/themen/schwerpunkte/dossiers/diskriminierung-von-trans-personen/trans-geschlechtlichkeit-hat-viele-auspraegungen/identifikation-als-trans/transsexuell-transgender-und-transident. Zuletzt geprüft am 30.04.2024.
Genderdings (o. D.): Was bedeutet es, nicht-binär zu sein? 4 wichtige Punkte. Online verfügbar unter: https://genderdings.de/nicht-binaritaet/was-bedeutet-es-nicht-binaer-zu-sein. Zuletzt geprüft am 30.04.2024.
Regenbogenportal.de (o. D.) Trans* – was? Online verfügbar unter: https://www.regenbogenportal.de/infoartikel/trans-was. Zuletzt geprüft am 30.04.2024.
Mit dem Begriff der ‚Frühsexualisierung‘ instrumentalisieren queerfeindliche Akteur*innen Kinder für ihre eigene Agenda. Im Mittelpunkt der Argumentation steht dabei die Behauptung, Aufklärung über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt widerspreche einem angeblich natürlichen kindlichen Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Orientierung. Die bloße Darstellung von Lebensweisen jenseits heterosexueller Paarbeziehungen zwischen Mann und Frau führe demnach bei den Kindern zu Verunsicherung, welche deren ‚gesunde‘ Entwicklung gefährde und deren sexuelle, sowie geschlechtliche Identität beeinflussen könnte.
Schon der Begriff ‚Frühsexualisierung‘ suggeriert dabei, die Vermittlung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt (z. B. das Zeigen eines Bilderbuchs, in welchem ein Kind mit zwei Müttern vorkommt) sei etwas Anstößiges, mit dem Kinder zu früh in Berührung kommen würden. Die Darstellung von Heterosexualität und einem binären Geschlechtssystem (Frau/Mann) gilt dem gegenüber als völlig normal und wird nicht als ‚Frühsexualisierung‘ bezeichnet. Laut dieser Argumentation sind Heterosexualität und ein binäres Geschlechtssystem also erstrebenswerter als andere Formen des Zusammenlebens.
Ginge es nach diesen queerfeindlichen Akteur*innen, sollte die gesamtgesellschaftlich reale Vielfalt an Lebensentwürfen, die im Alltag der Kinder längst eine Rolle spielt, in Kindergarten und Schule nicht thematisiert werden. Das widerspricht jedoch einer Vielzahl an Studien zum Thema, welche immer wieder belegen, dass gerade eine wertneutrale und altersgerechte Aufklärung über eigene Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen die beste Prävention gegen sexuelle Übergriffe und Gewalt sowie hilfreich für ein gelingendes Sexual- und Beziehungsleben sind. Die geschlechtliche und sexuelle Einordnung der Kinder kann sich durch diese Form der Thematisierung nicht ändern, aber queere Kinder und Jugendliche erfahren Anerkennung und Unterstützung in ihrer Identität und ihrem Aufwachsen.
Weiterführende Informationen
Blum, Rebekka/Degner-Mantoan, Jennifer/Gäbelein, Tanja/Kaufman, Fabian/Rösch, Viktoria (2023): profem*. Broschüre für sexuelle Selbstbestimmung, Vielfalt und Gendergerechtigkeit. Online verfügbar unter: http://www.bildungsarbeit.org/wp-content/uploads/2023/01/profem_doppelseite.pdf
Debus, Katharina/Laumann, Vivien (Hrsg.): „Pädagogik geschlechtlicher, amouröser und sexueller Vielfalt – Zwischen Sensibilisierung und Empowerment“. Online verfügbar unter: https://interventionen.dissens.de/fileadmin/Interventionen/redakteure/Dissens_-_PädagogikGeschlechtlicheAmouröseSexuelleVielfalt.pdf
Kinderbuch
Peifer, Noa Lovis/Blatt, Linu Lätitia (2023): Untenrum. Und wie sagst du? ISBN: 978-3-407-75711-1. Ab 4 Jahre
Erklärfilm
Projekt Interventionen für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt bei Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. „Geschlechtliche und Vielfalt –Erklärfilm“: https://www.gwi-boell.de/de/sexuelle-vielfalt
Genderismus wird vor allem von (neu)konservativen und rechten, aber auch christlichen Akteur*innen als diffamierender Begriff genutzt, um gegen diverse Gleichstellungsversuche und Geschlechterforschung anzugehen. Darunter fallen beispielsweise Gender Mainstreaming, also der staatliche Versuch, Frauen und Männer auf allen Ebenen staatlicher Aktivitäten gleichermaßen mitzudenken, wissenschaftliche Geschlechterforschung/Gender Studies, die Verwendung geschlechtersensibler Sprache, feministische und queere Bewegungen oder eine Pädagogik der Vielfalt sowie Sexualpädagogik.
Da queerfeindliche und antifeministische Akteur*innen von einem stereotypen, heterosexuellen und binären Bild von Geschlecht ausgehen, brandmarken sie jegliche Infragestellung dieses Bildes als ideologisch (siehe Queer-/Gender-Ideologie), um sie abzuwerten und zu delegitimieren. Das wollen queerfeindliche Akteur*innen auch mit der Wortsteigerung durch die Endung ‚-ismus‘ ausdrücken. Manchmal wird sogar behauptet die Berücksichtigung queerer Lebensweisen sei ‚diktatorisch‘ oder ‚wahnhaft‘, so als würden queere Personen nicht-queeren Personen ihre Lebensform aufzwingen (siehe Gender-/Queer-Diktatur).
Der Vorwurf des ‚Genderismus‘ wird dabei vor allem gegen die Geschlechterforschung/Gender Studies gerichtet. Diese sind besonders häufig von Diffamierungen und Angriffen durch queerfeindliche Akteur*innen ausgesetzt.
Weiterführende Informationen
Schutzbach, Franziska (2019): Antifeminismus macht rechte Positionen gesellschaftsfähig. Online verfügbar unter: https://www.gwi-boell.de/de/2019/05/03/antifeminismus-macht-rechte-positionen-gesellschaftsfaehig
Schutzbach, Franziska (2018): Gender raus – Zwölf Richtigstellungen zu Antifeminismus und Gender-Kritik, Heinrich-Böll-Stiftung und Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.) https://www.boell.de/sites/default/files/gender_raus_epdf_2.pdf
Sigl, Johanna/ Kapitza, Katharina/ Fischer, Karin (Hrsg.) (2021): Facetten des Antifeminismus. Angriffe und Eingriffe in Wissenschaft und Gesellschaft. Hamburg. https://www.marta-press.de/themen/rechtsextremismus-antifeminismus-rassismus/94/facetten-des-antifeminismus-angriffe-und-eingriffe-in-wissenschaft-und-gesellschaft
Von Bargen, Henning/ Unmüßig Barbara (2016): Antifeminismus- Scharnier zwischen rechtem Rand und Mitte. Gunda-Werner-Institut. Online einsehbar unter: https://www.gwi-boell.de/de/2016/09/28/antifeminismus-scharnier-zwischen-rechtem-rand-und-mitte
Hark, Sabine/ Villa, Paula-Irene (Hrsg.) (2015): Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Berlin: Transcript-Verlag.
In einer sehr gängigen queerfeindlichen Behauptung wird die Berücksichtigung queerer Lebensweisen in allen Bereichen des Alltags als diktatorisch benannt. Demnach würden Forderungen rund um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt nur von einer kleinen, aber politisch sehr machtvollen Gruppe vertreten. Diese könne die eigenen Themen gegen den Willen der Gesamtbevölkerung, aber mit weitreichenden negativen Folgen für diese, uneingeschränkt setzen. Verwirklicht würde diese Setzung beispielsweise in Kindergärten und Schulen (siehe Indoktrination). Der Einsatz für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt wird also als totalitär dargestellt (siehe Queer-/Gender-Ideologie). Viele queerfeindliche Akteur*innen verwenden den Diktatur-Begriff dabei nicht bloß als Sinnbild, sondern gehen tatsächlich davon aus, dass die deutsche Regierung heimlich von queeren Kräften gelenkt würde, wir uns also in einer versteckten Diktatur und nicht in einer Demokratie befinden.
Die Idee, es gäbe im Verdeckten handelnde Gruppen, Eliten bzw. Lobbys, die einzelne Länder, oder sogar die gesamte Welt beherrschen würden, ist dabei überhaupt nicht neu und eine zutiefst antisemitische Erzählung (vgl. jüdische Weltverschwörung). Diese wurde schon sehr früh mit dem Kampf für geschlechtliche Gleichstellung verknüpft, indem rechte Akteur*innen behaupteten, Feminismus sei ein jüdisches Konzept. Der Verweis auf eine Gender- bzw. Queer-Diktatur ist eine aktuelle Fortführung dieser Erzählung. Außerdem ermöglicht die Verwendung des Diktatur-Begriffs den vermeintlich angebrachten Vergleich aktueller Gegebenheiten mit vergangenen Diktaturen, insbesondere mit der Zeit des Nationalsozialismus. Die Behauptung, Verfechter*innen von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt würden ‚wie Nazis handeln‘, oder Schmäh-Bezeichnungen wie der von queerfeindlichen Akteur*innen genutzte Begriff ‚Feminazi‘, verharmlosen den Holocaust und die NS-Zeit. Tatsächlich bezeugt dies lediglich die Nähe mancher dieser Akteur*innen zur extremen Rechten.
Realität ist, dass sämtliche politischen Verbesserungen weiblicher bzw. queerer Lebensentwürfe das Ergebnis langer Kämpfe durch Betroffene sind. Häufig ist es sogar so, dass die Regierung Gesetze zur Verbesserung der Lebensbedingungen von queeren Menschen erst dann verabschiedete, wenn sie durch gerichtliche Entscheide hierzu verpflichtet wurden. Von einer Diktatur kann also weder im tatsächlichen noch im übertragenen Sinne gesprochen werden. Die Verwendung des Begriffs dient einzig der Diffamierung.
Weiterführende Informationen
Fedders, Jonas (2018): »Die Rockefellers und Rotschilds haben den Feminismus erfunden.«. Einige Anmerkungen zum Verhältnis von Antifeminismus und Antisemitismus. In: Lang, Juliane/ Peters, Ulrich (Hrsg.): Antifeminismus in Bewegung. Aktuelle Debatten um Geschlecht und sexuelle Vielfalt (S. 213–232). Hamburg: Marta Press.
Hagemeister, Michael (2018): Der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. In: belltower news. Online verfügbar unter: https://www.belltower.news/der-mythos-der-juedischen-weltverschwoerung-28878. Zuletzt geprüft am 22.04.2024.
Blum, Rebekka (2022): Das Verhältnis von Antifeminismus und Verschwörungsdenken. Antimoderne Krisenbearbeitung in der Coronapandemie. In: Hessel, Florian/ Chakkarath, Pradeep/ Luy, Mischa (Hrsg.): Verschwörungsdenken. Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung, psychosozial-Verlag, S.193-214.
Queerfeindliche Akteur*innen behaupten, dass Personen, die sich für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt einsetzen, manipulierende Tricks nutzen, um jungen Menschen ihre falsche Weltanschauung (Stichwort Queer-/Gender-Ideologie) aufzuzwingen, also sie zu indoktrinieren. Eine solche Argumentation ist allerdings nur dann schlüssig, wenn Kindern und Jugendlichen unterstellt wird, dass sie von sich aus Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit (Frau/Mann) für natürlich und normal halten (Stichwort biologische Zweigeschlechtlichkeit). Die Erziehung hätte sich deshalb an diesem Normalitätsverständnis zu orientieren. Damit erscheint das Mitdenken unterschiedlicher geschlechtlicher und sexueller Lebensweisen wie ein Fremdkörper, der von außen über die Kinder und Jugendlichen gestülpt wird. Statt im Einklang mit deren Normalitätsvorstellungen ERzogen würden junge Menschen also zu Lasten einer gesunden Entwicklung UMERzogen (Stichwort Frühsexualisierung).
So etwas wie ein angeborenes Normalitätsverständnis gibt es aber nicht. Nicht die Aufklärung über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ist bevormundend, sondern Kindern und Jugendlichen vorzuschreiben mit welchen Identitäten und Orientierungen sie sich identifizieren sollen unabhängig von deren tatsächlichen Empfinden. Demokratische Gesellschaften, die sich an den Menschenrechten orientieren, sollten Menschen aber möglichst diverse Optionen anbieten. Nur so können diese freie bzw. mündige Entscheidungen für die eine und gegen eine andere Option treffen. Viele queere/nichtbinäre, trans* oder inter* Kinder und Jugendliche bekommen im aktuellen System jedoch keine Option außerhalb der binären Einordnung als Frau oder Mann und heterosexueller Beziehungen. Schulen und Jugendarbeit gelten oftmals als queer-, inter*- und trans*feindliche Räume. Kindern und Jugendlichen einen diskriminierungsfreien Lernraum zu gewähren, stellt Aufgabe von Kindergarten und Schule dar (Stichwort LSBTIQ* werden nicht diskriminiert). Dazu gehört es auch sie in ihrer geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung anzuerkennen.
Weiterführende Informationen
Debus, Katharina/ Laumann, Vivien (Hrsg.) (2018): Pädagogik geschlechtlicher, amouröser und sexueller Vielfalt. Zwischen Sensibilisieren und Empowerment. Berlin: Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V.
Online verfügbar unter: https://interventionen.dissens.de/fileadmin/Interventionen/redakteure/Dissens_-_P%C3%A4dagogikGeschlechtlicheAmour%C3%B6seSexuelleVielfalt.pdf
Fachstelle Queere Bildung
Queerformat. https://queerformat.de
Vortrag
Groß, Melanie (Professur für Erziehung und Bildung FH Kiel): Queering Jugendarbeit: wie offen ist die Jugendarbeit für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt? Sichtbarkeit, Empowerment und Diskriminierungsschutz für eine demokratische Gesellschaft. Kurzfassung des Vortrags online verfügbar unter: https://www.lsvd.de/de/ct/1276-Queering-Jugendarbeit-Wie-offen-ist-die-Jugendarbeit-fuer-geschlechtliche-und-sexuellen-Vielfalt
Kemper, Andreas (14. Mai 2023): „Indoktrination von Kindern“, Diskursatlas, http://www.diskursatlas.de/index.php?title=Indoktrination_von_Kindern&oldid=3201
Einige Menschen behaupten, ein queerer Aktionsplan für Bayern sei nicht nötig, weil Lesben, Schwule, trans* und inter* Personen, sowie weitere queere Gruppen in Deutschland nicht (mehr) benachteiligt werden würden.
Es ist richtig, dass gerade in den letzten Jahrzehnten viele rechtliche Diskriminierungen abgebaut wurden. Seit 1994 ist Homosexualität nicht mehr strafbar und seit 2017 dürfen gleichgeschlechtliche Paare offiziell heiraten. Außerdem existiert seit 2019 der Geschlechtseintrag ‚divers‘ für Menschen, deren biologisches Geschlecht nicht eindeutig als männlich oder weiblich bestimmt ist, um nur wenige Beispiele zu nennen. Auch gesamtgesellschaftlich hat sich einiges getan. Die öffentliche Sichtbarkeit von queeren Menschen nimmt zu. So feiern beispielsweise viele Städte im Juni jeden Jahres den Pride Month, LSBTIQ*s werden regelmäßiger in Medien repräsentiert und viele Personen des öffentlichen Lebens gehen offen mit ihrer Queerness um.
Aufgrund dieser positiven Entwicklungen davon auszugehen, dass keine Diskriminierung mehr stattfindet, ist aber falsch. Bei einer Studie zu Diskriminierungserfahrungen im Arbeitskontext von 2017 berichteten beispielsweise weit über 3/4 der Befragten von Benachteiligungen. Jede dritte queere Person verschweigt sogar die eigene geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung aus Angst vor Diskriminierung. Die Ergebnisse einer Studie zur Lebenssituation junger queerer Menschen in Bayern von 2023 spricht eine noch deutlichere Sprache. Hier berichteten 93,9% von Benachteiligungen, welche sich auch stark auf das Wohlbefinden der Jugendlichen und jungen Erwachsenen auswirkt. Auch die Hasskriminalität gegen queere Menschen nimmt seit wenigen Jahren wieder deutlich zu. Allein im Jahr 2022 wurden fast 1500 Straftaten registriert, nahezu dreimal so viele wie noch vor zwei Jahren. Hinzu kommt, dass dringend erwartete gesetzliche Anpassungen, wie beispielsweise das Selbstbestimmungsgesetz zur Änderung von Vorname und Geschlechtseintrag für transgeschlechtliche Menschen, oder die Modernisierung des Abstammungsgesetzes, das auch Anpassungen für Regenbogenfamilien beinhaltet, aufgrund des politischen Rechtsrucks in Deutschland schon lange stagnieren bzw. vor deren Verabschiedung reaktionäre Anpassungen erfolgten. Queere Menschen erfahren in Deutschland also nach wie vor deutliche Diskriminierung auf vielen Ebenen.
Weiterführende Informationen
Bundesministerium des Inneren und für Heimat (2023): Arbeitskreis „Bekämpfung homophober und transfeindlicher Gewalt“. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/
nachrichten/2023/06/ak-abschlussbericht.html?nn=9388922.
Frohn, Dominic/ Meinhold, Florian/ Schmidt, Christina (2017): »Out im Office?!« Sexuelle Identität und Geschlechtsidentität, (Anti-)Diskriminierung und Diversity am Arbeitsplatz. https://www.diversity-institut.info/publikationen/out-im-office-2017.
Heiligers, Nain/ Frohn, Dominic/ Timmermanns, , Stefan/ Merz, Simon/ Moschner, Tabea (2023): „How are you?“ Die Lebenssituation von LSBTIQA* Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Bayern. Bayerischer Jugendring (Hrsg.) https://www.bjr.de/spotlight/queere-jugendarbeit/hay-studie.
Heterosexualität bezeichnet die sexuelle Orientierung von Frauen hin zu Männern (siehe Zweigeschlechtlichkeit) und andersherum, die in vielen Gesellschaften als Norm gilt (wissenschaftlich nennt man das Heteronormativität). Diese Norm wird meist durch deren vermeintliche ‚Natürlichkeit‘ oder durch ‚Gottes Wille‘ legitimiert. In dieser Vorstellung wird behauptet menschliche Sexualität sei zwingend mit den Themen Fortpflanzung und Familiengründung verbunden – Sexualität sei also dann natürlich bzw. gottgewollt, wenn Kinder aus dieser hervorgehen (könnten). Homosexualität und anderes Begehren jenseits der Heterosexualität erscheinen dem gegenüber als ‚wider die Natur‘ bzw. als ’sündig‘ (religiöser Kontext), denn sie richtet sich nicht primär auf den Akt der Zeugung. Damit werden nicht-heterosexuelle Menschen gleichzeitig als abweichend markiert.
Von LSBTIQ+-Personen wird gesamtgesellschaftlich erwartet, dass sie sich zu ihrer Sexualität bekennen, sich ‚outen‘. Sie werden also über ihre Sexualität definiert, was für Heterosexuelle nicht der Fall ist. Darüber hinaus wird die monogame und heterosexuelle Beziehung auch rechtlich bevorteilt: z. B. bei Adoptionsrechten, künstlicher Befruchtung, Ehegatt*innensplitting, etc. Dabei ist sexuelles Begehren divers: lesbisch, schwul, bisexuell, pansexuell, polysexuell, polyromantisch, queer, asexuell, uvw.
Die Diskriminierung nicht-heterosexueller Lebensformen reicht weit zurück und dauert fort: Homosexuelle Menschen wurden im Dritten Reich durch das nationalsozialistische Regime verfolgt und ermordet. Erst seit 1994 wurde der Paragraph 175 StGB abgeschafft, mit welchem Homosexuelle in Deutschland bis dato strafrechtlich verfolgt wurden. Auch innerhalb der christlichen Kirchen herrscht nach wie vor Uneinigkeit über die Einordnung von Homosexualität als ‚Sünde‘ oder nicht. Erst langsam setzt hier ein Umdenken ein. Die Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe ist erst seit 2017 gesetzlich verankert.
Weiterführende Informationen
Debus, Katharina (2021): Was geht? Das Heft über Geschlechter, Liebe und Grenzen.
Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Download & Bestellung unter: https://www.bpb.de/shop/lernen/was-geht/327569/das-heft-ueber-geschlechter-liebe-und-grenzen.
Debus, Katharina (2021): Diskriminierungsreflektierte Sexualpädagogik. In: Thuswald, Marion/Sattler, Elisabeth (Hrsg.): Sexualität, Körperlichkeit und Intimität. Pädagogische Herausforderungen und professionelle Handlungsspielräume in der Schule. Bielefeld: transcript. S.69–94. Online unter: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5840-8/sexualitaet-koerperlichkeit-und-intimitaet.
Debus, Katharina: Heterosexuelle Matrix. https://katharina-debus.de/material/grafiken/heterosexuelle-matrix
Laumann, Vivien/Debus, Katharina/Klemm, Sarah (2017): Erklärfilm Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. Produziert von Pudelskern im Rahmen des Projekts Interventionen für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt von Dissens – Institut für Bildung und Forschung. https://interventionen.dissens.de/materialien/erklaerfilm.
Schwulen-und Lesbenverband: PARAGRAPH 175 STGB: VERBOT VON HOMOSEXUALITÄT IN DEUTSCHLAND. Verfolgung von Homosexuellen in Deutschland – Geschichte eines Schandparagraphen. Online verfügbar unter: https://www.lsvd.de/de/ct/1022-Paragraph-175-StGB-Verbot-von-Homosexualitaet-in-Deutschland
Unter queerfeindlichen Akteur*innen ist die Behauptung weit verbreitet, beim Einsatz für sexuelle und geschlechtliche Diversität handle es sich um eine Ideologie. Ideologie lässt sich dabei als ‚falsche Weltanschauung‘ übersetzen. Demnach gehe es Menschen, die sich queer- und geschlechtersensibel positionieren, nicht ausschließlich um die Anerkennung von Vielfalt, sondern darum der Gesellschaft Vorstellungen durch Zwang aufzuerlegen, welche vermeintlich weitläufig abgelehnt werden. Als Ideologie verstehen antiqueere Akteur*innen z. B. die Einforderung gleicher Rechte, wie die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit, die gerechte Verteilung von Hausarbeit, dass der Schutz von Familie für alle Familienformen gilt oder, dass Menschen über den eigenen Körper selbst bestimmen und den eigenen Namen und Geschlechtseintrag selbst wählen dürfen. Die vollumfängliche Anerkennung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt ist jedoch ein Menschenrecht, welches in einer Vielzahl von Gesetzen weiter ausformuliert wird (z. B. Grundgesetz, Allgemeines Gleichstellungsgesetz, Personenstandsgesetz etc.). Die Forderung der vollumfänglichen Berücksichtigung queerer und geschlechtersensibler Belange auf allen Ebenen (Gesellschaft, Politik, Kultur etc.) ist damit eigentlich ein Einsatz für die rechtmäßige Auslegung des derzeit gültigen Rechts. Dem gegenüber geht es queerfeindlichen Akteur*innen in der Regel um eine Einschränkung dieser hart erkämpften Rechte für bestimmte Gruppen.
Der Versuch queerfeindlicher Akteur*innen die Forderung der Berücksichtigung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt als ideologisch zu verunglimpfen, kann stattdessen als Anhaltspunkt dafür gelesen werden, welche Weltanschauung unter den Gegner*innen vertreten wird. Nur wenn in der eigenen Vorstellung Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit (Frau/Mann) als erstrebenswerter Normalzustand gilt, erscheinen Forderungen nach Anerkennung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt eben nicht als die Ausformulierung gültigen Rechts, sondern als Angriffe auf die eigene (heterosexuelle) Art zu leben.
Weiterführende Informationen
Altman, Dennis/Symons, Jonathan (2018): Queer Wars. Wunschtraum oder realistische Perspektive? bpb Schriftenreihe. https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/281610/queer-wars
Dip, Andrea (2022): „Genderideologie“ – eine Erfolgsgeschichte für die ultrakonservative, extreme Rechte. Online verfügbar unter: https://www.boell.de/de/2022/09/14/genderideologie-eine-erfolgsgeschichte-fuer-die-ultrakonservative-extreme-rechte
Ganz, Kathrin (o. D.): Anti-Genderismus: Gender unter Ideologieverdacht. Online verfügbar unter: https://www.regenbogenportal.de/informationen/anti-genderismus-gender-unter-ideologieverdacht
Manne, Kate (2020): Down Girl. Die Logik der Misogynie. bpb Schriftenreihe.
Podcast
Say my name (SMN) #1 – Wie misogyn sind wir? Frau sein in Deutschland.
Disclaimer: In dieser Folge wird über sexualisierte Gewalt gesprochen und zwar in Minute: 00:02:46-00:02:57, 00:10:00-00:13:50, 00:30:37-00:30:52 *** https://www.bpb.de/mediathek/podcasts/say-my-name-der-podcast/543641/smn-1-wie-misogyn-sind-wir
Schutzbach, Franziska (2017): „Die Gender-Ideologie will die Geschlechterdifferenz abschaffen. Jeder soll sich sein Geschlecht aussuchen können“. Online verfügbar unter: https://www.gwi-boell.de/de/2017/07/24/die-gender-ideologie-will-die-geschlechterdifferenz-abschaffen-jeder-soll-sich-sein
Vor allem im Zusammenhang mit der Debatte um die Einführung des Selbstbestimmungsgesetzes, nach der der Geschlechtseintrag von Personen nun verhältnismäßig leicht geändert werden kann, wurden Vorwürfe laut, hierdurch würden Frauenschutzräume zerstört. Konkret wird behauptet, Männer könnten sich nun offiziell legitimiert als Trans*-Frauen ausgeben, um ungestraft beispielsweise Frauentoiletten aufzusuchen und dort Frauen belästigen.
Eine solche These ist aus mehrerlei Gründen unhaltbar. Allein die Vorstellung eine sich als Mann fühlende Person könnte eine offizielle Änderung ihres*seines Geschlechts mit all den damit einhergehenden zumeist negativen Folgen für sich selbst in Kauf nehmen, um sexualisierte Gewalt ausüben zu können, ist unrealistisch. Außerdem schützt auch ein geänderter Geschlechtseintrag nicht vor den juristischen Folgen von Straftaten.
Jede dritte Frau wird in ihrem Leben mindestens einmal Opfer von physischer und/oder sexueller Gewalt, Tendenz steigend. Von erlebter sexueller Belästigung kann nahezu jede Frau in Deutschland berichten. Diese erschreckenden Befunde sind möglich, ohne, dass Männer sich auf ihren offiziellen Ausweisdokumenten hierfür als Frauen ausgeben müssen. Das zeigt sehr deutlich, dass queerfeindliche Akteur*innen mit dem Vorwurf der möglichen Ausnutzung von Schutzräumen eine Scheindebatte führen. Das dringende Thema der Sicherheit von Frauen wird nicht tatsächlich bearbeitet, sondern lediglich für eigene transfeindliche Zwecke erfolgreich instrumentalisiert. Statt Männer als hauptsächliche Tätergruppe zu benennen, geraten so Trans*-Frauen unter Generalverdacht. Dabei sind diese selbst in besonderem Maße von Gewalt (durch Männer) betroffen (siehe LSBTIQ*-Menschen brauchen keinen Schutz, da sie nicht diskriminiert werden). Hier findet also eine Täter*innen/Opfer-Umkehr statt.
Stünde tatsächlich die Wahrung von Schutzräumen im Mittelpunkt des Interesses besagter queerfeindlicher Akteur*innen, wäre ein Einsatz für Wickeltische in Männertoiletten für diese darüber hinaus weitaus lohnender. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann mit Baby oder Kleinkind gezwungen ist, eine Frauentoilette aufzusuchen, um den dortigen Wickeltisch zu nutzen, ist schließlich weitaus höher, als dort einem sich als Frau ausgebenden Mann zu begegnen.
Weiterführende Informationen
Bundesministerium des Inneren und für Heimat (2023): Häusliche Gewalt im Jahr 2022: Opferzahl um 8,5 Prozent gestiegen – Dunkelfeld wird stärker ausgeleuchtet. Online verfügbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2023/07/lagebild-hg.html;jsessionid=6723BB845ECD4FA3DBBBB06968A9434C.live881. Zuletzt geprüft am 24.04.2024.
Kruber, Anja; Baer, Judit, Weller, Konrad; Seedorf, Wiebke; Bathke, Gustav-Wilhelm; Voß, Heinz-Jürgen (Hrsg.).(2023): Viktimisierungsstudie Sachsen (VisSa) – Studie zur Betroffenheit von Frauen durch sexualisierte Gewalt, häusliche/partnerschaftliche Gewalt und Stalking. Merseburg: Hochschule Merseburg. Online verfügbar unter: https://publikationen.sachsen.de/bdb/artikel/42236/documents/64356. Zuletzt geprüft am 25.04.2024.
Müller, Ursula/ Schröttle, Monika (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Zusammenfassung zentraler Ergebnisse. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Online verfügbar unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/84316/10574a0dff2039e15a9d3dd6f9eb2dff/
kurzfassung-gewalt-frauen-data.pdf. Zuletzt geprüft am 25.04.2024.
Dr.in Katrin Degen ist Sozialarbeiterin (M.A.), wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm, Autorin und freiberufliche politische Bildnerin. Sie forscht seit zehn Jahren zur (extremen) Rechten aus geschlechter- und sexualitätssensibler Perspektive.
Alia Wielens ist Soziologin (M.A.) und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Als Doktorandin an der Goethe Universität Frankfurt forscht sie zur Frage von diversen Erinnerungen an französischen Gedenkstätten. Ihre Interessensschwerpunkte sind u. a. feministische Geschlechterforschung, Extreme Rechte, und die Erforschung von Gedenken und Erinnern.
Beide sind Gründungsmitglieder des Netzwerks Fempi: Feministische Perspektiven und Interventionen gegen die (extreme) Rechte. https://fempinetzwerk.wordpress.com